Die Evolution des Zuhause

In unserem Zuhause nimmt alles seinen Anfang.

Werden wir gebeten, uns ein Zuhause vorzustellen, haben die meisten wohl ein Gebäude vor sich. Aber das Zuhause ist mehr als nur eine physische Wohnstätte. Worum geht es bei einem Zuhause – und warum ist es wichtig? Wir sprachen mit dem Ethnologen und Anthropologen Mark Vacher, außerordentlicher Professor an der Universität Kopenhagen, und fanden heraus, dass ein Zuhause mehr ist, als das, was man sieht.

Als allgegenwärtiger Bestandteil unseres täglichen Lebens ist ein Zuhause mehr als ein physischer Ort. Geprägt von den sozialen und kulturellen Gegebenheiten ihrer Zeit, entwickeln sich Häuser mit uns weiter. Seit der Zeit, als wir gemeinsam mit unseren Verwandten um ein knisterndes Feuer saßen, ist unser Zuhause ein Ort, an dem wir uns zugehörig fühlen.

„Wenn wir kein Zuhause in der Welt haben, befinden wir uns nicht mehr in der Welt“, sagt Mark Vacher.

„Das Zuhause als Konzept ist interessant. Es steht eine gewisse Bedeutung hinter diesem Begriff, wenn wir darüber sprechen. Wenn ich zu einer Person sage, dass sie „nach Hause“ gehen soll, macht das für sie und mich sofort Sinn – auch wenn ich nicht weiß, wo dieses Zuhause ist oder wie es aussieht.“

Der im Volksmund verwendete Begriff „Zuhause“ ist auf Anhieb vertraut – wenn auch naturgemäß individuell – und kann vielseitig benutzt werden. Doch wenn wir beginnen, seine Bedeutung tiefer zu ergründen, wird er komplexer. Was ist ein Zuhause? Wo ist das Zuhause? Wie fühlt sich ein Zuhause an? Die subjektive Bedeutung des Wortes „Zuhause“ ist sowohl etwas Bekanntes als auch Unbekanntes.

„Das Zuhause hat sowohl eine sprachliche Referenz als auch einen existenziellen Zusammenhang. Wenn wir geboren werden, werden wir sofort versorgt, damit unser Überleben gesichert ist. Wir erhalten einen Platz in der Welt und einen Körper, um zu wachsen. Es ist kein Zufall, dass Jesus eine Krippe hatte. Existenziell betrachtet ist mein Körper mein Zuhause; ich bin immer in meinem Körper – wie eine Schnecke in ihrem Haus. Das Zuhause als Ort inmitten anderer Orte kann über seine existenzielle Bedeutung hinaus mit der Entwicklung des Individuums in Verbindung gebracht werden“, erklärt Vacher.

 

Häusliches Glück

Adelige gehörten zu den ersten, die ein Zuhause in der Bedeutung schufen, wie wir es heute kennen. Sie zogen von Schloss zu Schloss und richteten diese mit großen, schweren Möbeln und üppigen Gemälden an den Wänden ein – mit Dingen, die nicht nur ihrem Reichtum, sondern auch ihrer Identität Ausdruck verliehen. Mit der Industrialisierung wurde das Zuhause zunehmend mit Gegenständen gefüllt, die ein wachsendes Gefühl der Individualität festmachten.

„Im Mittelalter bedeutete Familie, wo man arbeitete, wo man lebte, wer man war. Durch das Aufkommen von Individualität, der Individualarbeit und der Bourgeoisie im 19. Jahrhundert wandelte sich das Zuhause zu einem Ort, an den sich die Menschen zurückzogen - und an dem die Idee der Kleinfamilie blühte. Davor waren wir immer jemandes Sohn, Mutter, Schwester oder Bruder“, sagt Vacher.

„In Wirklichkeit nehmen wir als Individuen unseren Anfang und bauen dann während unseres ganzen Lebens Gemeinschaften auf. Dazu braucht es Instrumente, Geräte, Arenen, Plattformen, Objekte, Kinderzimmer, Gärten, Kücheninseln…“

 

Jenseits des Physischen

„Das Zuhause ist heutzutage ein Ort, den wir morgens verlassen, um abends wieder zurückzukehren. Wir füllen es mit Dingen. Wir schaffen offene Küchen, in denen wir Bio-Brot backen, während die Kinder ihre Hausaufgaben machen, oder wir trinken gemeinsam eine Flasche Wein. Das Zuhause spiegelt die bourgeoise Vorstellung einer Familie wider. Und wir schaffen Gemeinsamkeit durch die Gegenstände, die wir für unser Zuhause kaufen. Wir machen Objekte und Ideen im Zuhause zu einer Art Fetisch, um unseren Sinn für Individualität, Wohlbefinden und Gemeinschaft zu fördern. Wir investieren Zeit und Mühe in unser Zuhause und unseren Garten, um Luxus, Wohlstand und Zeit zu demonstrieren.“

Das Zuhause ist auch der Ort, an dem wir die Zeit nach unseren Bedürfnissen formen. Wir legen uns abends schlafen, und der Tag wird zum Morgen. Wir wachen morgens auf und geben uns wieder dem Lauf der Zeit hin.

 

„Alles, was wir in unserem Zuhause haben, erinnert uns daran, wer wir sind und mit welcher Gemeinschaft wir uns umgeben möchten“

 

„Das Zuhause ist ein Ort, an dem wir sicher ein- und ausgehen. Wo nichts auf dem Spiel steht“, sagt Vacher.

„An einem schlechten Tag kommen wir nach Hause und ziehen uns früh ins Bett zurück, um den Tag abzuhaken. An anderen – guten – Tagen bleiben wir lange auf, um noch einmal das Meiste aus dem Tag hervorzuholen. Es ist ein Ort jenseits von Orten – im Gegensatz zur Arbeit, wo wir bestimmte Aufgaben erledigen und Ziele erreichen müssen, bevor wir zu Mittag essen, unsere Arbeit beenden und nach Hause gehen – und zu Hause passiert nichts und zugleich dennoch alles. Dinge können sich ändern, weil sich nichts ändert.“

 

Gemeinsam alleine

Das Konzept von Zuhause geht also über die Grenzen der Sprache und archaischer Interpretationen hinaus. Überlege dir, was es bedeutet, sich „zu Hause“ zu fühlen. Vacher ist der Ansicht, dass eine dauerhafte physische Wohnstätte nicht erforderlich ist, um sich wie „zu Hause“ zu fühlen. Das Zuhause kann überall und zu jeder Zeit im Leben geschaffen und wieder geschaffen werden. Während ein Haus auf Normen basiert, basiert ein Zuhause auf subjektiven Emotionen.

Physischer Schutz ist ein menschliches Grundbedürfnis. Doch es ist unser Wunsch nach Zugehörigkeit, der unser Zuhause prägt. Dies wird im altenglischen Wort für „Heimat“ bzw. „Zuhause“ wiedergegeben – hām –, das sich auf ein Dorf oder ein Anwesen bezieht, wo viele „Seelen“ versammelt sind. Ein physischer Bau wird impliziert, es geht aber eher um eine Ansammlung von Menschen. Die Objekte, die wir für unser Zuhause erwerben, erzählen nicht nur, wer wir sind. Sie sind eine greifbare Erinnerung an die Art und Weise, wie wir in Beziehung zu anderen stehen, um eine Gemeinschaft aufzubauen – was für unser Überleben von entscheidender Bedeutung ist.

„Alles, was wir in unserem Zuhause haben, erinnert uns daran, wer wir sind und mit welcher Gemeinschaft wir uns umgeben möchten“, sagt Vacher.

„Manche sind gut darin, „zu Hause“ zu sein – also darin, sich in der Welt und in einem Raum zu Hause zu fühlen. Andere finden es schwierig und arbeiten hart daran, sich wie zu Hause zu fühlen.“

Traditionell war ein Zuhause in vielen Kulturen kein Ort, den Fremde betreten würden. Bestenfalls gab es vielleicht einen Raum außerhalb der Mauern eines Zuhauses, wo wir andere Menschen trafen. Heutzutage präsentieren wir unser Zuhause nicht nur uns selbst, sondern auch der Außenwelt.

„Unser Zuhause erzählt anderen etwas über uns – aber nur, wenn sie durch die Tür gelassen werden. Wenn du mein Zuhause betrittst, betrachte ich es durch deine Augen. Welchen Eindruck du von mir hast. Wenn ich mich betrachten würde, was würde ich gerne sehen? Aber es ist schwer, ein Zuhause so einzurichten, dass andere mich so sehen, wie ich es möchte", erklärt Vacher.

Das Zuhause löst eine körperliche Reaktion aus: Wir können tiefer atmen; unsere Muskeln können sich entspannen. Aber wenn das Schaffen eines Zuhauses eine emotionale Bindung und ein Gefühl der Zugehörigkeit erfordert, warum ist es uns dann so wichtig, womit wir es füllen?

„Der Prozess, ein Zuhause zu schaffen, dauert seine Zeit. Es wächst mit uns“, sagt Vacher.

„Die Gegenstände, die wir für unser Zuhause erwerben, erzählen, wer wir sind und wie wir mit anderen umgehen.“

Durch Design können wir der Welt vermitteln, wer wir sind und was wir sein wollen.

„Ebenso wie ein gut designter Stuhl, der leise und instinktiv seinen Zweck erfüllt, tut ein Zuhause dasselbe: Wenn es seine Arbeit gut macht, ist es ein Instrument. Wie ein gutes Gemüsemesser, das sich mühelos führen lässt, so dass man die Karotte, die man schneidet, spürt, aber nicht das Messer in der Hand. Bei unserem Zuhause ist es das Gleiche: Es vermittelt, wer wir sind und wen wir vor den Menschen, mit denen wir zusammen sein möchten, darstellen wollen. Das Schaffen eines Zuhauses steht für etwas. Ein gutes Zuhause erleichtert das gute Leben. Egal, ob du das Bio-Brot backst oder nicht.“

 

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